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Eine Vision für die Kinder- und Jugendarbeit der Zukunft

Pädagogik

Autor:

Green Steps

Short summary:

Bericht über ein Erasmus+ Seminar in Belgien zum Thema „Jugendarbeit mit Grips“, in dem eine systemische Aufstellung nach der Theory U von MIT Professor Otto Scharmer eine Vision für eine neue Ordnung der Gesellschaft zeigt: Das Spannungsfeld zwischen unseren Kindern und unserem Planeten definiert die Aufgaben der Erwachsenen und zeigt einen hoffnungsvollen Weg aus der multiplen Krise. Welche Strategie ist notwendig, um diese Transformation zu ermöglichen?

Ein Jugendlicher der Angst vor der Zukunft hat und sich vor der Wirklichkeit fürchtet kniet im Zentrum des Raumes. Eine Jugendliche aus einer einkommensschwachen Familie steht mit gesenktem Kopf dahinter. Sie fühlt sich vernachlässigt und fragt, wer sie an der Hand nehmen möchte. Europa sitzt am Rande des Raumes und beobachtet aus der Distanz; selbstkritisch konstatiert sie, nur in der Theorie groß und stark zu sein. Die Jugendarbeit hält dem Druck kaum stand und hat eine Gesellschaft hinter sich, die wütend ruft: „Jetzt macht doch endlich etwas!“ Die nicht-formale Bildung sucht einen Ausweg aus der Krise. Die höchste Möglichkeit des Systems empfiehlt aufzuhören, permanent nur zu rennen. Mutter Erde steigt auf eine Bühne und stöhnt über die Köpfe der Menschen hinweg: „Ihr macht mich kaputt!“

Die Stimmung ist deprimierend. Ich bin nur Schriftführer, aber ich habe eine Gänsehaut und es drückt mir dicke Tränen in die Augen. Was passiert hier? Dirk Adams, ein deutscher Coach mit Fokus auf Bildungsthemen moderiert ein Seminar zur Zukunft der offenen Kinder- und Jugendarbeit (OKJA) und hat die Veranstaltungsteilnehmer eingeladen, die gegenwärtige Situation aufzustellen. Das System ist erdrückend. Die Seminarteilnehmer, welche Jugendarbeit in unterschiedlichen Rollen in fünf europäischen Ländern leisten, kennen die Realität. Der Mensch neigt jedoch dazu, diese zu verdrängen. In diesem Bild erfasst sie uns mit voller Wucht. Es gibt keine Möglichkeit sich ihr zu entziehen.

Die Gegenwart der Jugendarbeit zeigt uns, dass wir in unterschiedlichen Realitäten leben und unser Handeln nicht aufeinander abgestimmt ist. Jeder Blickt in eine andere Richtung, Verbindungen bestehen nicht oder sind schwach. Unsere Positionen im Raum sind nicht aufeinander abgestimmt. Es herrscht eine Art von Chaos, das durch die Ordnung des Marktes nicht sofort auffällt. Jeder hat seinen eigenen Vorteil im Fokus und vergisst darüber hinaus auf die Schwächsten der Schwachen. Eine Geisteshaltung, die nicht nur andere, sondern letztlich die Erde selbst schwächt und zu unserem Untergang führt. Die Menschheit befindet sich nicht nur in Europa in einer tiefen Bewusstseinskrise.

Eine Studie der Europäischen Gemeinschaft, die erst am 13. Oktober veröffentlicht wurde, zeigt für 32 europäische Länder, welche Auswirkung Covid-19 auf die mentale Gesundheit von Jugendlichen hatte. Ein Mitarbeiter des gastgebenden Jugendbüros Belgien stellt die wesentlichen Aussagen vor: die psychische Situation unserer Jugendlichen war bereits vor der Pandemie kritisch, hat sich während März 2020 und März 2022 jedoch besorgniserregend verschlechtert. Für Green Steps ist das nichts neues. Covid-19 hat aus unserer Sicht bestehende Probleme nur sichtbarer gemacht und sich vor allem im Gesundheits- und im Bildungssektor niedergeschlagen. Seit einigen Jahren versuchen wir – gemeinsam mit vielen anderen Organisationen – auf das Nature Deficit Disorder aufmerksam zu machen und die Verbindung zwischen dem holistischen Gesundheitszustand des Einzelnen und der
Gesellschaft mit der fortschreitenden Entfremdung von der Natur aufzuzeigen und Lösungen einzuführen.

Das Pilot Projekt Mobile Campus 4.0 ist eine derartige Lösung, die wir seit zwei Jahren in St. Pölten entwickeln: teilstandardisierte Routen, die vor allem Kindern und Jugendlichen das lokale Ökosystem spielerisch erfahren lassen. Durch die Erfahrung des Raumes, in dem wir leben, meint man nur etwas über Naturkunde zu lernen, es liegt jedoch auf der Hand, dass die erfahrungsbasierte und wiederholte Auseinandersetzung mit der natürlichen Umgebung nicht nur Systemverständnis für die Umwelt, sondern auch tieferes systemisches Verständnis für die Bewohner dieses Raumes, sowie den Bezug zu mir selbst stärken. Diese lernpsychologische Dreiteiligkeit wurde von Daniel Goleman Triple Focus bezeichnet und sollte als Grundlage für einen Lehrplan des 21. Jahrhunderts dienen. Wir haben dieses Konzept in einer Erasmus+ Jugendbegegnung im Sommer 2021 mit 40 Jugendlichen aus sieben EU Ländern erfolgreich angewandt und in einem zweiteiligen Dokumentarfilm aufbereitet. Wir haben uns auch über den European Youthpass und eine zukunftsfähige Ausrichtung von Jugendkomptenzen substanziell Gedanken gemacht. 

Immer mehr wird uns bewusst, dass sowohl in Bildung wie auch Sozialarbeit vertikales Denken hinderlich ist, holistische Strategien zu implementieren. Traditionelle Vertreter von Bildungsinstitutionen sehen ihren Handlungsraum „drinnen“ und oft nur bei STEM oder nur bei Spracherwerb. Sozialarbeit wiederum beansprucht für sich Themen wie Inklusion, gewaltfreie Kommunikation und Kulturverständnis. Green Steps ermöglicht zwar Naturerfahrung, jedoch sehen wir uns nicht nur als Naturvermittler, sondern aktivieren die Natur für vielschichtiges Lernen, das nicht im Widerspruch sondern als Ergänzung zu Bildung und Sozialarbeit zu verstehen ist. Das übergeordnete Ziel ist unsere Selbstwahrnehmung auf die Realität anzupassen und die durch das Axialzeitalter hergerufene Trennung zwischen Mensch und Natur aufzuheben.

Naturvermittler formieren sich in einigen Ländern so auch in Österreich zu einer neuen Berufsgruppe, die sich gegenüber anderen Berufsgruppen abzusichern sucht: den Lehrern und Institutionen der formalen Bildung und den Lehrern und Institutionen der informalen Bildung, die keinen Bezug zur Natur haben. Wir sind davon überzeugt, dass Naturbezug eine neue Klammer zwischen allen Ebenen der Bildung und der Gesundheitsfürsorge darstellen muss; daher sehen wir uns in einer horizontalen Vermittlerrolle und laden ein diese neue Basis des miteinander Lernens und Leben in die eigenen Arbeit zu integrieren.

Zurück zur Veranstaltung in Belgien, wo unser Moderator Dirk Adams einlädt, sich des Raumes und der Position des eigenen Körpers noch einmal bewusst zu werden und sich für eine bestmögliche Zukunft der offenen Kinder- und Jugendarbeit entsprechend zu verändern. Otto Scharma nennt diesen Vorgang „pre-sencing“, das Erfühlen einer besseren Version der Gegenwart. Der Jugendliche in Zentrum steht auf, geht ein paar Schritte und blickt hinauf zur Erde: „Endlich kann ich wieder Ideen haben.“ Die Gesellschaft stellt sich neben die Jugendliche und sagt zu der benachteiligten Jugendlichen: „Ich bin verdammt nochmal stark, und es tut mir leid, dass ich dich vergessen habe.“ Die benachteiligte Jugendliche bewegt sich kaum und erwidert, dass sie von der Gesellschaft und der Jugendarbeit, aufgefangen werden möchte. Die Jugendarbeit steht schützend neben der benachteiligten Jugendlichen und spürt eine starke Verbindung zu den Jugendlichen und der Gesellschaft. Europa stellt sich zwischen die aktuelle gesellschaftliche Situation und die Gesellschaft und sagt: „Ich bin inklusiv und verbinde.“ Die aktuelle gesellschaftliche Situation erkennt die Härte der Realität, streckt aber energiegeladen die Arme Richtung Erde und Europa aus. Die Erde ruft in den Raum: „Nehmt mich wahr, schützt mich, ihr braucht mich! Die höchste Möglichkeit des Systems bleibt dicht neben der Erde und rät zu innezuhalten und bewusst weitergehen, um die Erde zu retten.

Das zweite Bild zur Zukunft der Jugendarbeit zeigt deutlich auf, dass wir – wenn wir uns einer gemeinsamen, sinnbeladenen Vision unterordnen – automatisch unseren Platz in einer größeren Ordnung finden. Alle im Bild mitwirkenden Rollen reihen sich wir Perlen an einer Schnur nebeneinander in einer nicht planbaren, von einer unsichtbaren Hand angeleiteten Struktur. Der in der Realität oft auf sich selbst fokussierte Jugendliche geht aus dem Zentrum des Raumes, stellt sich neben Gesellschaft / Eltern und überlässt die zentrale Rolle der benachteiligten Jugendlichen: um sie sollte es in der Jugendarbeit im Wesentlichen gehen. Die Jugendarbeit ordnet sich neben dieser ein. Die informelle Bildung unterstützt die Jugendarbeit und in einer immer größer werdenden Spirale finden alle Elemente dieses Bildes ihren Platz, um ein Energiefeld zwischen Erde und Kind zu erzeugen.

Die Form dieser Anordnung ist nicht mehr Chaos, sondern eine natürliche Ordnung, wie sie von einem Menschen nicht planbar ist. Der systemische Organisationsentwickler erkennt den goldenen Schnitt sowie die von Don E. Becks aufgestellte Spiral Dynamics These. Der Evolutionspsychologe erblickt einen blueprint für eine TEAL Gesellschaft, die sich selbst organisiert, indem sie eine Vision teilt und sich jeder seiner Verantwortung und Rolle bewusst wird. Die Montessori Pädagogin kann sich der Lektüre von Grundlagenliteratur erinnern und versteht einen Satz erneut: If life owed its survival only to the struggle of the strong, the species would perish. So, the real reason, the main factor of the survival of the species, is the love that the adults feel for their young. [Maria Montessori, The Absorbent Mind]

Im zweiten Bild fällt auf, dass der Gesellschaft eine überdurchschnittlich wichtige Rolle zuteilwird. Dies reflektiert meine Wahrnehmung, dass die Eltern und die formelle Bildung bereits im ersten Bild als Rollen gefehlt haben. All diese Elemente vereinen sich nun in der Rolle der Gesellschaft, die bisher apathisch zugesehen hat wie die nächste Generation und die Erde zerstört werden. Offene Kinder- und Jugendarbeit ist wichtig, keine Frage, aber in einer systemischen Betrachtung der Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, wird schnell klar, dass Jugendarbeit nur Symptome und nicht die Ursachen bewältigen kann.

Eltern sind in einem klassischen Gefängnis- bzw Gefangenen Dilemma: entweder sie beugen sich dem immer stärkeren Wettbewerb am Arbeitsmarkt und bereiten ihre Kinder darauf vor, indem sie diese den immer höheren Anforderungen der formellen Bildung preisgeben. Lehrer fügen sich diesem Wettbewerb oder laufen Gefahr ihren Beruf zu verlieren. Die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft werden ihrer Kindheit beraubt, indem die dritte entwicklungspsychologische Phase des Lernens in die erste und zweite gepresst wird und der Mensch sich im Allgemeinen immer mehr mit Maschinen messen muss – anstatt dass diese das Leben aller erleichtern und verbessern.

Gerade in Bezug auf die formelle Bildung muss sich die informelle Bildung die Frage stellen, welchen Hebel sie überhaupt ansetzen kann. Jugendliche Schüler sind 50 und mehr Stunden jede Woche mit ihrer Schule beschäftigt, sodaß kaum Zeit bleibt an informellen Aktivitäten teilzunehmen. Wer den Anschluß nicht verlieren will, der arbeitet so wie meine 14 jährige Tochter selbst am Wochenende an den Hausaufgaben. Aber nicht nur dass das zu meisternde Informationsvolumen stetig zunimmt, es ist auch die Geschwindigkeit, mit der dieses auf junge Menschen einwirkt. Früher gab man Heranwachsenden, deren Gehirn und Körper sich vielfach verändert, mehr Zeit um Inne- und Ausblick zu halten. Wir berauben unsere Jugendlichen jeglichen Halts und jeglicher Orientierung, indem wir sie in digitalen Nihilismus stürzen. Wir müssen in der Tat anhalten und uns fragen, was das Ziel von informeller und formeller Bildung ist und eine holistische Antwort finden, bevor wir blind weiterhasten.

Die Hoffnung für unsere Art besteht weiter, indem wir das sinnentleerte Ausleben unserer individuellen Fantasien, dem sinnerfüllten kollektiven Traum vom Überleben der nächsten Generation unterordnen. In den Worten des Neurologen Viktor Frankl: For success, like happiness, cannot be pursued; it must ensue, as personal dedication to a cause greater than oneself or as the by-product of one’s surrender to a person other than oneself. Die gemeinsame Anstrengung einer wachsenden Gruppe von verantwortungsvollen Erwachsenen wird die Zukunft der heutigen Kinder und Jugendlichen ermöglichen. Diese Erwachsenen müssen sich in allen Schichten der Gesellschaft finden, nicht nur innerhalb der offenen Kinder- und Jugendarbeit.